In der Gemeinde Grüsch im Kanton Graubünden hat das Architekturbüro Ritter Schumacher eine alte Mühle zu einem Wohnungsbau transformiert. Das Hauptgebäude wurde saniert und umgebaut, der 30 Meter hohe Getreideturm aus dem Jahr 1939 musste abgerissen werden. Aber der Beton wurde nach einer eigens entwickelten Rezeptur neu aufbereitet und für den Wiederaufbau genutzt.
Das 2.000-Einwohner-Dorf Grüsch im vorderen Prättigau liegt ungefähr zwischen Chur und Davos und eine gute Fahrstunde von Zürich entfernt. Ortsfremde wundern sich vielleicht über ein großes Wohngebäude, das weit über den örtlichen Kirchturm hinausragt und auf den ersten Blick überdimensioniert wirkt. Doch für Einheimische ist der schon von weitem sichtbare Bau eine Art Wahrzeichen – auch wenn er sich jetzt in schwarze Solarpaneele kleidet: Denn Form und Volumen des Wohnturms entsprechen dem Silo der Getreidemühle am Taschinasbach, deren Geschichte bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Später, ab 1889, erhielt Grüsch als eines der ersten Bündner Dörfer Strom durch die Mühle, und der nahe Bahnhof erleichterte den Transport von Getreide und Mehl – und heute den Menschen das Pendeln.
Seit der Stilllegung im Jahr 2010 wurden verschiedene Ideen für die Umwandlung der Industriebrache durch Abriss und Neubau wieder fallen gelassen, weil sie aus Sicht der klassischen Immobilienentwicklung zu wenig Rendite versprachen und zu viel Risiko bargen. Schließlich erwarb das Unternehmen Gutgrün AG das Areal mit dem ausdrücklichen Ziel, hier ein Projekt des zirkulären Bauens mit Modellcharakter entstehen zu lassen.
Transformation mit minimalem Materialeinsatz
Die insgesamt 52 Wohnungen sind seit November 2025 bezugsfertig. Hauptgebäude und Turm verfügen jetzt über verschiedene Typen – jede mit Loggia oder Balkon – für unterschiedliche Lebensentwürfe. Die meisten davon sind 37 kleinere 1,5- bis 3,5-Zimmer-Wohnungen auf elf Etagen im Turm mit rund 30 bis maximal 89 Quadratmetern. Diese werden in Grüsch auch dringend benötigt, weil durch den neuerlichen Zuzug von Maschinenbau-Hightech-Firmen neue Arbeitsplätze entstanden sind. Im sanierten und umgebauten, vierstöckigen Hauptgebäude befinden sich dagegen bis unter das Satteldach fünfzehn Loftwohnungen mit 2,5 bis 3,5 Zimmern und bis zu 147 Quadratmeter.
Wo es möglich war, blieben die Oberflächen des Altbaus unbehandelt. Sogar die Graffiti einer Urban Art Ausstellung blieben erhalten, die das Haus als eines der Zwischennutzungsprojekte in den Jahren des Leerstands nutzte. Diese bringen in den offenen, großzügigen Räumen des ehemaligen Industriebaus den Charme einer Großstadt in das Alpendorf.
Alter Beton wird zu 100 Prozent wiederverwendet
Das fensterlose Hochsilo mit seinen vielen Kammern und dünnen Wänden konnte aus statischen Gründen nicht mit solchem Minimalaufwand saniert werden. Nach dem Rückbau wurden die Baustoffe jedoch sortenrein getrennt und nach Möglichkeit wiederverwendet. Der Beton zum Beispiel wurde zu 100 Prozent im nahe gelegenen Werk Untervaz der Gribag AG geschreddert, rezykliert und floss wieder in den Neubau ein. Für die neue Betonproduktion wurde die benötigte Gesteinsmischung zu 75-95 Prozent mit dem Abbruchbeton ersetzt und ein CO2-reduzierter Zement verwendet: So wurde der Wohnturm praktisch aus dem gleichen Material neu modelliert und besteht nun zu 60 Prozent aus dem alten Turm. Die Rezeptur wurde zusammen mit Kieswerk, Baumeister, Zementhersteller und Statiker exakt auf die für die Statik nötige Körnung abgestimmt.
Für die ganze Mühle gilt: Wo neue Materialien eingesetzt werden mussten, sind sie konsequent ECO-zertifiziert, also schadstofffrei und ressourcenfreundlich hergestellt. So stammt das Holz aus der Schweiz und ihren Nachbarländern, für die Dämmung wurde regionale Steinwolle eingesetzt. Alle Materialien sind für eine etwaige spätere Umnutzung oder einen Rückbau dokumentiert.
Früher Wasserkraft, heute Solarenergie
Eine Art Kraftwerk ist die Mühle Grüsch trotz der Umnutzung geblieben. Wo man früher die Wasserkraft nutzte, um Mehl und dann auch Strom zu produzieren, sind es heute Solarzellen an der Fassade und auf dem Dach, die die künftigen Hausbewohner mit Energie versorgen. Dabei ist auch eine neue Ästhetik entstanden: Die schwarzen, matt glänzenden Solarpaneele gliedern die Fassade vertikal. Für Wärme sorgt eine zentrale Wärmepumpe, ergänzt durch kontrollierte Lüftung mit Wärmerückgewinnung. Das Energiekonzept der Mühle Grüsch basiert vollständig auf erneuerbaren Quellen.
Der Turm erfüllt den Schweizer Minergie-P-Standard und soll über den gesamten Lebenszyklus hinweg eine optimierte CO₂-Bilanz erreichen. Das Architekturbüro Ritter Schumacher hat dafür die Tragkonstruktion, die Grundrisse, die Installationen und selbst das Design konsequent und immer mit Blick auf den CO₂-Abdruck weiterentwickelt. Für die nachhaltige und zirkuläre Bauweise erhielt die Mühle drei DGNB-Zertifikate, darunter das erste Rückbauzertifikat der Schweiz. Weitere Informationen >>>
