Die „Hydroskin“-Fassadenelemente sind fast transparent. (Quelle: ILEK, Christina Eisenbarth)

Fassadensanierung 19. October 2022 Textiler Problemlöser

Am Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Universität Stuttgart ist ein hydroaktives Fassadenelement entwickelt worden. Es soll zwei Probleme lösen: Bei Regen kann es große Wassermengen aufnehmen, die es bei Hitze zwecks Kühlung wieder abgibt.

Das Luftbild der Metropole Singapur, aufgenommen mit einer Wärmebildkamera, zeigt viele orange-rote Flecken und nur einen grün-blauen. Die roten Zonen repräsentieren bebaute Gebiete. Dort sind die Temperaturen um rund 10 Grad höher als in den „grünen“ Parks. Der Grund dafür: Über natürlichen Oberflächen verdunsten rund 60 Prozent des eintreffenden Regenwassers und sorgen so für Abkühlung. Versiegelte Straßen- und Gebäudeoberflächen lassen dagegen nur 10 Prozent Wasserverdunstung zu. Die restlichen 90 Prozent gelangen in die Kanalisation und führen zu einem weiteren Problem: verheerende Überschwemmungen durch Starkregen.

Steigende Urbanisierung, bauliche Verdichtung und zunehmende Flächenversiegelung verschlimmern – neben den Auswirkungen des Klimawandels – Hitze- und Hochwasserrisiken nicht nur in Metropolen Südostasiens, sondern auch in unseren Städten. An der Universität Stuttgart ist eine Lösung für beide Probleme ist entwickelt worden: Eine hydroaktive Fassade, die nicht nur Außenwände und das Gebäudeinnere, sondern auch den Stadtraum kühlt. Die textilen Fassadenelemente mit dem Namen „HydroSkin“ nehmen bei Regen Wasser auf und geben es an heißen Tagen zur Verdunstungskühlung wieder ab. „Hydroaktive Elemente stellen bei minimalem Ressourceneinsatz eine effektive Fassadenlösung zur Neutralisierung des städtischen Hitze-Insel-Effekts dar“, sagt Prof. Werner Sobek, bis 2020 Leiter ILEK der Universität Stuttgart und früherer Sprecher des Sonderforschungsbereichs SFB 1244 Adaptive Hüllen und Strukturen für die gebaute Umwelt von morgen.

Hohe Luftzirkulation fördert die Verdunstung

Zentraler Bestandteil dieser neuen Fassadenelemente ist ein so genanntes Abstandsgewirke: zwei textile Lagen, die durch Fäden auf Abstand gehalten und dadurch gut durchlüftet werden. Die hohe Luftzirkulation fördert die Verdunstung von Wasser und verstärkt den Kühleffekt der Fassade. Das Gewirke ist an der Außenseite von einer wasserdurchlässigen Textilhülle umgeben, die nahezu alle Regentropfen eindringen lässt und gleichzeitig das Gewirke vor Verunreinigungen schützt. Eine Folie an der Innenseite leitet das Wasser in das untere Profilsystem ab. Von dort kann es, entweder in einem Reservoir gespeichert oder direkt im Gebäude genutzt werden, um den Wasserverbrauch zu reduzieren. An heißen Tagen wird Wasser in das Fassadenelement zurückgeleitet, verdunstet dort und sorgt so für den natürlichen Kühleffekt. „Dieses Fassadensystem stellt eine artifizielle Retentionsfläche zur Regenwasserrückhaltung und -verdunstung in der Gebäudefassade dar, die durch ihre optischen und haptischen Qualitäten nicht nur unglaublich schön ist, sondern zugleich einen Meilenstein für die Anpassung der gebauten Umwelt an die akuten Herausforderungen unserer Zeit darstellt“, ist sich Christina Eisenbarth, akademische Mitarbeiterin am ILEK und Erfinderin von „HydroSkin“, sicher.

Vor allem bei Hochhäusern haben hydroaktive Fassaden großes Potenzial – und das nicht nur aufgrund ihrer großen Fassadenfläche. Zum einen trifft der Regen mit zunehmender Höhe als Schlagregen schräg auf die Fassade, so dass ab etwa 30 Metern Gebäudehöhe mehr Regen über die Fassade aufgenommen werden kann als von einer gleich großen Dachfläche. Zum anderen verstärken die hohen Windgeschwindigkeiten den Verdunstungskühleffekt und es entsteht ein kühler Luftstrom, der abwärts in den Stadtraum zieht.

„Hydroskin“-Elemente werden an einem adaptiven Hochhaus gestestet

Hier ist der Prüfstand am adaptiven Hochhaus auf dem Campus Vaihingen der Universität Stuttgart mit ersten hydroaktiven Fassadenprototypen und umfangreicher Messtechnik zu sehen. (Quelle: Sven Cichowicz)

Erste „HydroSkin“-Elemente werden derzeit am weltweit ersten adaptiven Hochhaus auf dem Campus Vaihingen der Universität Stuttgart getestet, dem Flaggschiff des Sonderforschungsbereichs 1244 und ausgewähltes Projekt der Internationalen Bauausstellung (IBA). „Die Ergebnisse sind vielversprechend. Bereits in Laboruntersuchungen konnten wir circa zehn Grad Temperaturreduktion durch den Effekt der Evaporation nachweisen. Die ersten Messungen am Hochhaus Anfang September weisen auf ein noch deutlich höheres Kühlpotenzial hin“, so Eisenbarth.

„2023 wird eine weitere Etage des adaptiven Hochhauses D1244 mit ;HydroSkin‘-Elementen realisiert werden. Nach und nach soll jedes Geschoss des Gebäudes mit neu entwickelten und innovativen Fassaden ausgestattet werden, die einen Beitrag zu mehr Ressourceneffizienz und Klimaschutz leisten werden“, kündigt ILEK-Leiter Prof. Lucio Blandini, verantwortlicher Planer für das D1244 und stellvertretender Sprecher des SFB 1244, an. Der Einsatz der hydroaktiven Fassadenelemente soll jedoch nicht auf das Forschungshochhaus beschränkt bleiben: Da die Elemente sehr leicht sind, können sie an jeder Fassade im Neubau wie auch im Gebäudebestand nachträglich angebracht werden.

zuletzt editiert am 19.10.2022